STOLPERSTEIN-VERLEGUNG

Ein Stein, ein Name, ein Mensch

Unsere Geschichte liegt vor unseren Füßen, vor unserer Haustür. Mit neuen Stolpersteinen, die im Dezember verlegt werden, kommt uns die Geschichte der Menschen, die im Nazi-Regime deportiert wurden, wieder näher. Die neue Prenzlauer Berger Stolperstein-Initiative sorgt dafür, dass wir nicht vergessen.

 

Stolpersteine. Sie erzählen die Geschichte der Menschen, die deportiert wurden. Weil sie anders waren – Juden, Homosexuelle, Widerstandskämpfer gegen das Nazi-Regime, Menschen mit Behinderungen. Nachbarn, die einfach aus ihrem Leben gerissen wurden. Sie selbst oder ihre Nachfahren könnten heute noch in Prenzlauer Berg leben. 

Die Initiative Stolpersteine verlegt am 5. Dezember an acht Orten in Prenzlauer Berg 24 Stolpersteine. Für die Familie Joseph in der Mendelssohnstraße 3 beispielsweise, Eltern mit vier Kindern. Das jüngste der vier, der Junge Berl, war gerade geboren. Im März 1943 wurde zunächst der Vater, Siegbert Joseph, deportiert. Drei Monate später holten die Nazis Irma Joseph und die Kinder. Alle starben in Auschwitz. 

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Engagiert sich in der neuen Stolperstein-Initiative: Franziska Blank.

Vor der Wörther Straße 38 werden ab 5. Dezember vier Steine an Familie Einhorn erinnern. Vater Salomon und Sohn Julius Einhorn wurden 1938 im Zuge der sogenannten „Polenaktion“ aus Deutschland zwangsausgewiesen und dort im Lager Zbaszyn interniert. Ihr Schicksal ist unbekannt. Vier Jahre später, 1942 wurden Mutter Sabina und Tochter Ruth, 16jährig, nach Theresienstadt deportiert und dort ermordet.

 

355 Lebensgeschichten im Gehweg

355 Stolpersteine in Prenzlauer Berg bergen 355 solche furchtbaren Geschichten. Wir erfahren davon, wenn wir beinahe darauf treten. Vor Ehrfurcht treten wir dann einen Schritt zurück. Dann wird die Inschrift auf dem glänzenden Messing sichtbar: Der Name, das Geburtsjahr, das Datum der Deportation, der Ort des Todes – oder das Eingeständnis, das über diesen Menschen nichts genaues bekannt ist. Akribisch führten die Nazis Deportationslisten. In den letzten Kriegsjahren, als der Massenmord an KZ-Häftlingen seinen Höhepunkt erreichte, kamen selbst die akribischsten Nazis mit der Statistik nicht mehr hinterher. 

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Stolperstein für Willy Bab in der Prenzlauer Allee 27: 1942 nach Theresienstadt deportiert und dort verstorben.

Ein Stein, ein Name, ein Mensch. In wenigen Zahlen und Buchstaben steckt die Biografie eines Menschen, der einfach abgeholt und oft ermordet wurde, weil er nicht in die Zeit passte. Der Künstler Gunter Demnig hat das Projekt Stolpersteine 1995 ins Leben gerufen – und noch heute, nach vielen Jahren – verlegt er jeden neuen Stolperstein selbst. In 1099 Gemeinden und Städten Deutschlands, in 20 Ländern Europas, erinnern Stolpersteine an die einstigen Nachbarn. Die 10 mal 10 Zentimeter großen Steine, so seine Idee, holen die aus dem Leben gerissenen Menschen symbolisch an ihren Wohnort zurück. Anlass war für Gunter Demnig die Begegnung mit einer Kölner Zeitzeugin. Sie war fest davon überzeugt, in ihrer Nachbarschaft hätten nie Sinti oder Roma gelebt. Aus dieser Begegnung entstand die Idee, an alle Verfolgten des Nationalsozialismus an ihrem letzten frei gewählten Wohnorten zu erinnern. 

„Wenn wir für alle aus Prenzlauer Berg Deportierten einen Stolperstein verlegen würden, dann wären unsere Gehwege voll“, sagt Franziska Blank, die Sprecherin der Stolperstein-Initiative Prenzlauer Berg. Die seit April 2017 existierende Gruppe von Ehrenamtlern recherchiert die Daten und das Schicksal der deportierten Juden, Sinti und Roma, Homosexuellen und Widerstandskämpfer. Angehörige oder Hausbesitzer stellen die Anträge auf das viereckige Denkmal im Gehweg. Rund 100 Anträge liegen der Initiative derzeit vor, 50 hat sie seit ihrem Bestehen bearbeitet. Das heißt: Informationen über die Menschen recherchiert, ihre Lebensdaten, die Daten ihres Verschwindens aus Prenzlauer Berg. Die Suche ist oft schwierig, oft ist zum Beispiel die letzte Wohnadresse der Menschen schwer herauszufinden. Auch in Prenzlauer Berg pferchten die Nazis jüdische Familien in sogenannten „Judenhäusern“ zusammen. Oft ist der Verbleib der Menschen nach der Deportation unbekannt.

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In der Raabestraße lebte die Familie Eckstein, 1943 nach Theresienstadt und Auschwitz deportiert und dort verstorben bzw. ermordet. Fotos (3): al

Ausführlichere Biografien

Auf der gemeinsamen Homepage aller Berliner Stolperstein-Initiativen sind alle bisher verlegten Steine verzeichnet. Bei vielen Steinen stehen neben den Namen und Daten auch die Biografien der Menschen. Auch die Aktiven der Prenzlauer Berger Initiative wollen neben den Daten ausführlichere Biografien recherchieren. Wenn sie Zeit finden, denn noch harren viele Anträge der Bearbeitung, muss sich für die Zusammenarbeit auch eine Infrastruktur etablieren. Lange blieben die Anträge bisher unbearbeitet, weil das Museum Pankow, das zunächst war, einfach nicht mehr hinterherkam. Die etwa zehn Ehrenamtler beschäftigen sich nun Schritt für Schritt mit der Recherche. Priorität haben zunächst die Anträge auf einen Stolperstein, die von Angehörigen gestellt wurden oder bei denen Angehörige noch am Leben sind. 

Manchmal kann es einige Zeit dauern, bis ein Stolperstein tatsächlich auch verlegt wird. Insgesamt 320 Steine bekommt Berlin jährlich, aufgeteilt in alle Bezirke. In Prenzlauer Berg, Mitte und Kreuzberg liegen die meisten Steine – in vielen Randbezirken lebten keine bzw. wenige Juden. Viermal im Jahr vereint der Künstler Gunter Demnig dann Angehörige und Interessierte zur feierlichen Stein-Verlegung.

Am 5. Dezember erhält auch Joachim Kibak einen von drei Steinen vor dem Haus in der Kollwitzstraße 54. Der 21jährige konnte 1938 in die USA fliehen. Seine Eltern, Libe Lena und Mendel Kibak, wurden vier Jahre später deportiert und in Riga ermordet.

-al-, Dezember 2017

Wer sich bei der Stolperstein-Initiative Prenzlauer Berg engagieren möchte, kann sich hier informieren: www.stolpersteine-berlin.de