Lebende Geschichte

Was die Stolpersteine in mir bewegen ...

Die Autorin ist 1955 in Wien geboren und aufgewachsen. Sie hat vor allem in Brüssel als Ärztin gearbeitet. Seit September 2019 lebt sie mit ihrem  Mann im Kollwitzkiez in Berlin. Hier schreibt sie über Eindrücke, die sie als „Neu-Berlinerin“ erlebte. Bei der in diesem Artikel vorkommenden Gruppe handelt es sich um die "Stolpersteingruppe Prenzlauer Berg“.

 

Etwas Unerwartetes geschieht hier in Berlin mit mir.

Anfangs war ich ziemlich verloren, das Gewohnte, das Bekannte, welches Struktur und Rahmen gibt, fehlte mir sehr. Und dann hat mich bald Berlins »Erinnerungskultur« eingeholt. Ich begann, durch die Straßen zu streifen, oft mit gesenktem Kopf, um die die Inschriften auf den Stolpersteinen zu lesen, vor allem um herauszufinden, ob es Überlebende gab.

Und dieses Gehen hat eine innere Wandlung bewirkt; ich kam mit dem Schmerz, den das Andenken der Shoah in mir gelassen hat, in Berührung. 

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Immanuelkirchstraße 32: von hier wurden Hannchen Aaron nach Sobibor und die Familie Simon nach Auschwitz deportiert. Foto: MS

Ich sehe die Erinnerungstafeln an den Häuserwänden und an sogar unspektakulären Plätzen, zum Beispiel hinter dem S-Bahnhof Friedrichstraße, leicht übersehbar, eine Skulptur für die Kinder der Kindertransporte nach England. In meinem bisherigen Leben habe ich wenig über die Shoah geweint.

Irgendwie kam es mir sinnlos vor zu weinen, da es doch ein Weinen ohne Ende, ein Weinen ohne Erleichterung und auch ein sehr einsames Weinen ist. Weinen braucht ja auch Trost, und wer kann da schon trösten ... 

Alle aus unserem Umfeld sind doch irgendwie direkt von dieser Geschichte betroffen, und die, die nicht betroffen sind, wissen vielleicht nicht, dass sie als Tröstende gebraucht werden.

Denn diese Trauer ist unmöglich, aber ich habe jetzt erfahren, dass es gegen den Schmerz ein Mittel gibt: Es ist das Sichtbar-machen der Namen der verfolgten Menschen und derer Schicksale im öffentlichen Raum, denn durch dieses Sichtbarmachen, das Stolpern und die damit verbundene Verwunderung, sind alle aufgerufen, am weinen / trösten / sich erinnern, den Schmerz zu teilen. 

Es ist der Austausch von verschiedenen Betroffenheiten. 

Denn um getröstet zu werden, braucht es die Anderen, die eben anders von dieser Geschichte berührt werden, nicht in der eigenen Familien-Körper und Seelen-Sphäre. 

In der Stolperstein-Gruppe bin ich die Zuschauerin, denn ich liefere keinen aktiven Beitrag.

Ihr Tun ist mein Trost.

Meistens bin ich zu Tränen gerührt, aber diese Tränen sind nicht sinnlos, es gibt Hoffnung. 

Da erzählt ein Gruppenmitglied von dem Hausbewohner in der Immanuelkirchstraße 32 (bei mir um die Ecke), der einen Stein für seine ehemalige Nachbarin, die damals schon ältere Frau Aron anfertigen ließ. Sie blieb verschollen. 

Doch der Hausbewohner, der sie gekannt hat, denn deren Enkelkinder waren seine SpielgefährtInnen, machte es sich zur Aufgabe, dem Schicksal seiner ehemaligen Nachbarin nachzugehen. Sie wurde in Sobibor ermordet. 

Die Tochter dieses Mannes ist Lehrerin. Zur Steinlegung für Frau Aron kam sie mit ihrer Schulklasse; die Schüler haben bei der Feier das Lied  »Stolpersteine« von Trettmann gerappt. 

So wird jede Steinlegung zum Erinnerungsritual. Und das sind und werden noch viele Rituale sein, denn es gibt lange Wartelisten für Steinlegungen.

Es hört also noch lange nicht auf, einige Generationen werden sich noch lange stolpernd fragen müssen, was diese Steine bedeuten. Und das tut gut und ich fühle mich leichter. 

Elisabeth aus der Stolperstein-Gruppe sagt: „Jeder Stein bringt sie wieder zu uns zurück. Wir wollen sie alle wieder bei uns haben“.

Einmal erzählt mir Elisabeth auch von dieser 94-jährigen Frau, die aus Israel kam. Sie hat in Berlin Moabit ihren eigenen Stein vor das Haus getragen, in dem sie sie geboren und als Kind gelebt hat und aus dem sie mit ihrer Familie vertrieben wurde. 

Und Claude, mein Mann, beginnt seinen ersten, kleinen, mündlichen Vortrag vor seiner Deutschklasse mit den Sätzen: „Ich möchte euch von meinen Nachbarn erzählen. … Nachbarn, die nicht mehr in meinem Haus leben. … Man findet ihre Namen auf keinem Postkasten … aber auf Steinen vor unserem Haus.“ ... 

Für mich ist das lebendige Geschichte.

Catherine Markstein-Rakovsky, Juli 2020