Der Sport, die Sprachen und die Sprödigkeit

Prenzlauer Berg Zeitung Kieze
Einladend ruhig, unprätentiös. Es ist früher Morgen. Noch sind Stühle und Kneipe leer. Fotos (2): al

Grau und bunt, auf der Top-Ten-Liste für Singles und Wohnort bikultureller Familien: Der Gleimkiez bleibt seinem Nischen-Dasein treu und wacht gleichzeitig in die Bürgerlichkeit auf. Entdeckungen an einem ganz normalen Vormittag.

So viele Jogger hier. Junge Frauen in den bunten Outfits der Fitness-Blätter, mittelalte Männer mit Kopfhörern, junge Frauen mit Kopfhörern. Drehen einzeln und schweigend ihre Runden an diesem nebligen Morgen. Unermüdlich.
Der Friedrich-Ludwig-Jahn-Sportpark ist weit über das Gleimviertel hinaus Anlaufstelle für Vereins- und Freizeitsportler. Als Freifläche zwischen Cantianstraße und Mauerpark ist er zudem eine grüne Lunge im Kiez. Frischluft ist um die Jogger und Joggerinnen, die im kleinen Stadion des Sportparks ihre Runden drehen.
Einschlägige Online-Portale empfehlen die Morgen- und Abendstunden auf der Tartanbahn als ideal für flirtwillige Singles. Die Begründung, mit der es die Laufrunden auf die Top-Ten-Liste Berliner Flirt-Locations geschafft haben, liegt auf der Hand: Wer Sport treibt, ist attraktiv; wer allein Sport treibt, ist Single. Wo viele Jogger und Joggerinnen, da viele Singles. An diesem Morgen indes bahnt sich auf den Laufbahnen nichts an. Die jungen Frauen drehen einsam ihre Runden, die mittelalten Männer laufen allein hinterher oder vornweg.
Der Gleimkiez, ein Kiez im Übergang. „Graue Maus oder schön bunt?“ befragte die Initiative „Kieze im Dialog“ jüngst in einer ihrer Gesprächsrunden die Gegenwart dieses nordwestlichen Prenzlauer Berger Quartiers. In dieser sympathischen, unprätentiösen Gesprächsreihe werden sie vorgestellt, die alten und neuen, die dauerhaften und die flüchtigen Gleim-Bewohner: mit ihren Biographien und mit ihren Ansichten.
Sehr viel bunter sei der Kiez geworden, befand etwa der alteingesessene Autor Dieter Steiger, der in der Sonnenburger Straße aufwuchs und dort die Kriegs- und Nachkriegszeit erlebte. In seinem Buch „Berlin – Ecke Sonnenburger“ ist seine Lebensgeschichte notiert, ebenso wie manch Ereignis aus dem Quartier rund um den Falkplatz. „Eine Reihe Häuser ohne Bäume, ab und zu ein Laden, ziemlich kinderfeindlich“ so beschreibt Steiger den früheren Kiez. Heute sei er eben bunter und attraktiver.
Schön bunt, das sind die Jogger und Joggerinnen im Friedrich-Ludwig-Jahn-Sportpark in ihrem Fitness-Style auch. Drehen immer noch unermüdlich ihre Runden, jeder und jede für sich. Die Cantianstraße, an deren südliches Ende sich das Sport-Terrain schmiegt, könnte etwas mehr Farbe vertragen. Von der Schönhauser weht Verkehrslärm herüber. Auch Baulärm ist dabei. Direkt an der Ecke Schönhauser/Cantianstraße entsteht ein großzügiger Wohnblock. Im Sommer sollen die ersten Eigentumswohnungen bezugsfertig sein.

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Sportplatz von internationaler Bedeutung und Lieblingsort joggender Singles: Der Friedrich-Ludwig-Jahn-Sportpark.

Den Häusern auf der alten Cantianstraße fehlt der schmucke Putz, hier bröckelt noch das Grau. Sie habe ihr Büro direkt im Szene-Bezirk Prenzlauer Berg, inmitten prosperierender Kreativität, wirbt eine Marketing-Firma auf der Cantianstraße in eigener Sache. Wie das wohl die Kunden empfinden, wenn sie, von Kastanienallee oder Schönhauser kommend, der Firma einen Besuch abstatten?
Weiter nördlich auf der Cantianstraße wird es besser. Der Verkehrslärm verstummt, die Häuser zieren Graffitis oder eigene Bemalungen. Gelb und grün umrahmt sind die Schaufenster in den Erdgeschossen. Hier gedeiht Kreativität – in Ruhe. Vor kleinen Cafes stehen Kinoklappsitze und Fahrräder, vor den Wohnhäusern alte Gartenbänke und Pflanzenkübel. Es fehlt das im südlichen Prenzlauer Berg übliche Vielerlei aus Shops, Boutiquen, irgendwie stylischen Läden. Ein kleiner Späti da, eine kleine Galerie dort, die eine oder andere Kneipe. Manchmal ein Büro.
Und Kitas: Deutsch-italienisch, deutsch-englisch, deutsch-spanisch in Cantian-, Gleim- und Schwedter Straße. Die verborgene Nordwest-Idylle des Prenzlauer Berges haben, so scheint es, weniger die Schwaben, mehr die Europäer für sich entdeckt.
Auf der Kopenhagener Straße werden reihenweise die Häuser saniert. Wohnungsmakler vermitteln zu Quadratmeter-Preisen, wie sie auch im angesagten Bötzow-Kiez üblich sind, werben mit dem gleichen verheißungsvollen Vokabular für Lofts und ausgebaute Dachgeschosse.
In der „Kohlenquelle“ ist es am Morgen noch ruhig. Diese Kneipe muss nicht entdeckt werden, sie ist eine Institution. Unkonventioneller Treff der Kreativen, Lieblingsort von Menschen, die für wenig Geld was Gutes essen oder trinken wollen und sich in zusammengewürfeltem Flohmarkt-Mobiliar wohl fühlen. Das größte Plus der „Kohlenquelle“ ist der freie Platz vor dem Lokal. In der Sonne sitzend, lässt sich in den Himmel gucken, der sich nördlich der S-Bahn-Gleise erstreckt. Dafür braucht es nicht viel: Eine Baulücke und eine Brücke über die Gleise. Schon sieht es aus, als wäre der Prenzlauer Berg hier zu Ende. Ist er aber nicht.
Auch im Westen liegt freier Himmel. Die Kopenhagener hinauf ist es nicht mehr weit bis zum Mauerpark und der Jugendfarm „Moritzhof“. Der Eingang des Kinderbauernhofes lockt schön bunt und ökologisch. Kinder aus ganz Berlin kommen gern hierher, um die Tiere zu pflegen oder Brot zu backen oder zu schmieden.
Direkt vis a vis des Kinderbauernhofs stehen laute Herren in Anzügen. Sind dies womöglich Investoren, die den Mauerpark mit Wohnblöcken bebauen wollen? Es sind, so stellt sich heraus, Geschäftsreisende, die im Hotel übers Eck übernachtet haben.
Also doch. Die „graue Maus“ Gleimviertel ist auch vom Berlin-Tourismus entdeckt. Im Cafe an der Ecke sitzen weitere Hostel-Touristen an freundlichen Tischen. Daneben machen Bauarbeiter Frühstückspause und lesen die „BZ“. Möglicherweise meint die Marketing-Firma dies mit „prosperierendem Prenzlauer Berg“.
Katharina Fial (April 2014)
Einen Überblick über die Gesprächsrunden im Kiez gibts auf:
www.kieze-im-dialog.de